Sprachentwicklung per Erlass zu verbieten, ist ein großer politischer Rückschritt

Ich möchte mit einer Geschichte anfangen. Ein Vater und sein Sohn fahren zusammen in ihrem Auto und haben einen schrecklichen Autounfall. Der Vater stirbt beim Aufprall. Der Sohn wird mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren und sofort in den OP gebracht. Der Arzt wirft einen kurzen Blick auf ihn und sagt, man müsse eine Koryphäe zu Rate ziehen. Diese kommt, sieht sich den jungen Mann auf dem OP-Tisch an und verkündet: „Ich kann ihn nicht operieren, er ist mein Sohn.“

Wie ist das möglich? Wenn man diese Geschichte außerhalb von Debatten über das Gendern erzählt, haben viele Menschen echte Probleme zu erkennen, dass auch die Mutter die Koryphäe sein könnte. Nur weil Frauen mitgemeint sind, werden sie deswegen nicht gleich mitgedacht. Und das ist genau der Punkt: Sprache prägt die Realität. Unsere Vorstellungskraft wird davon begrenzt, was wir ausdrücken. Nicht umsonst können wir uns beispielsweise nur an Momente erinnern, in denen wir bereits sprechen konnten.

Verschiedene Studien haben bereits gezeigt, dass geschlechtergerechte Sprache inklusives Denken fördert und Menschen bei Ärzt*innen, viel häufiger an ein geschlechtergemischtes Team denken, als wenn nur von Ärzten die Rede ist. Das gilt besonders bei Kindern. Grundschulkinder, die gefragt wurden, wer ihr Lieblingssportler sei, benannten deutlich mehr Sportlerinnen, wenn in der Fragestellung gegendert wurde. Die AfD nutzt in ihren Reden und Veröffentlichungen aber nur die männliche Form, also das generische Maskulinum. Sie klammern also die Hälfte der Bevölkerung in Ihren Beiträgen aus. Das zeigt, dass Sie auch in diesem Bereich nicht auf der Höhe der aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse sind.
Wenn der AfD die Nennung der männlichen und weiblichen Form schon zu viel ist, dann ist die gendergerechte Sprache mit Genderstern, Binnen-Doppelpunkt oder Gender-Gap erst recht ein Dorn im Auge. Aber auch hier gilt: Sprache prägt die Gesellschaft. Und spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2018 ist klar: Auch die nicht-binären Personen, also Menschen, die sich nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen, müssen dies in öffentlichen Dokumenten zum Ausdruck bringen können. Deshalb wurde 2018 vom Bundestag das Personenstandsgesetz geändert und neben männlich und weiblich die Kategorie „divers“ als dritte Geschlechtsoption eingeführt. Spätestens mit dieser Änderung war klar, dass sich auch die Alltagssprache ändern wird. Natürlich wird die Sprache diese Geschlechtergerechtigkeit aufnehmen. Und das hat sie getan. Immer mehr Menschen und auch Institutionen benutzen eine geschlechtergerechte Sprache.

Das generische Maskulinum kommt aus einer Zeit, in der es eben noch keine Ärztinnen, Anwältinnen oder Politikerinnen gab. Da war eine weibliche Form schlichtweg nicht nötig. Aber seitdem hat sich die Welt und auch die Sprache weiterentwickelt. Vor gar nicht so langer Zeit war die Bezeichnung Frau Minister für Ministerinnen noch selbstverständlich, so würde heute kaum jemand mehr eine Ministerin betiteln. Geschlechtergerechte Sprache ist in vielen Behörden längst Standard. In Schleswig-Holstein gendern unter anderem die Stadtverwaltungen von Kiel. Lübeck, Bad Segeberg, Flensburg und Schleswig. Auch die meisten Unis und immer mehr Schulen nutzen geschlechtergerechte Sprache. Gendern ist – erfreulicherweise - gesellschaftliche Realität.

Wir sollten froh sein, dass sich Lehrer*innen, Schüler*innen, aber auch Beschäftigte im öffentlichen Dienst dafür entscheiden zu gendern. In den Fachanforderungen der Schulen ist die Auseinandersetzung mit geschlechtergerechter Sprache sogar gewollt. Sprachentwicklung per Erlass zu verbieten, ist ein großer politischer Rückschritt. Und der Erlass war ein grobes politische Foul, Frau Ministerin Prien. Obwohl klar war, dass wir dazu in der Koalition keine Einigung haben, haben Sie darauf bestanden, den Erlass an die Schulen heraus zu geben. Das belastet unsere vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Das politische Foul ist das eine. Damit müssen wir umgehen. Viel schlimmer ist, dass Sie mit dem Erlass viel Unruhe an die Schulen gebracht haben. Gerade in der Oberstufe beschäftigen sich viele mit Geschlechtergerechtigkeit, auch in der Sprache. Nun bekommen die Schüler*innen dafür einen Fehler angestrichen. Und die Lehrkräfte sollen auch in ihren Schreiben an die Schulgemeinschaft nicht gendern. Das bringt die Schüler*innen und Lehrkräfte in Konflikte. Das ist Wahlkampf auf dem Rücken der Schüler*innen und der Lehrkräfte, Frau Ministerin. Gerade im Bereich Schule ist es wichtig, dass sich alle Kinder angesprochen und repräsentiert fühlen. Mit einem Gender-Verbot wird das unmöglich gemacht. Und welches Signal senden wir an junge Schüler*innen, wenn wir ihnen beibringen, dass ihre bewusste Entscheidung, sich in ihrem Alltag für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen, falsch sei.

Frau Ministerin Sütterlin-Waack sagte noch 2020, es dürfe bei geschlechtergerechter Sprache keine Rückschritte geben. Dem schließe ich mich vollends an.
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