Wir brauchen politische Bildung zum Anfassen in unseren Schulen

Rede im Landtag zum Thema "Stärkung der politischen Bildung" (11. Dezember 2019)

Sehr geehrte Damen und Herren, für die große Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland ist die Demokratie als Staatsform selbstverständlich. „77 Prozent der Jugendlichen sind mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht, (eher oder sehr) zufrieden – diese Werte steigen sogar seit vielen Jahren an.“ So steht es in der aktuellen Shell Jugendstudie. Aber: Die Studie sagt auch, dass 24 Prozent der Jugendlichen populistischen Aussagen zugeneigt sind und 9 Prozent als Nationalpopu-list*innen bezeichnet werden können. „Sie stimmen allen populistisch aufgeladenen Statements durchgängig zu, distanzieren sich von der Aufnahme von Flüchtlingen und betonen darüber hinaus auch ihre generell ablehnende Haltung gegenüber Vielfalt.“

»Ich glaube nicht, dass sich Politiker darum kümmern, was Leute wie ich denken« - Dieser Aussage aus der aktuellen Shell Jugendstudie stimmen 71 Prozent der Jugendlichen zu. Wir haben also eine große Demokratieakzeptanz, aber gleichzeitig keinen Rückgang bei der grundsätzlichen Politikverdrossenheit. Das ist bedenklich. Deshalb ist es genau richtig, dass das Bildungsministerium das Jahr 2019 zum Jahr der politischen Bildung gemacht hat.

Vielen Dank, Frau Ministerin, für Ihren Bericht. Sie haben es dargestellt: Es gab ein buntes Spektrum an Veranstaltungen verschiedener Formate. Auch der Landesbeauftragte für politische Bildung hat mit vielen Projekten und Veranstaltungen unterschiedlichster Art Kinder- und Jugendliche für die Demokratie und Politik begeistert. Ein sehr gelungenes Format ist auch dialogP. Ich habe an sieben Schulen mit den Schüler*innen über ihre Fragen diskutiert.

Kostenloser ÖPNV, höhere Preise für Lebensmittel, mehr günstiger Wohnraum, Plastikverbot und vieles mehr waren Themen, auf die sich die Schü-ler*innen in Gruppen sehr gut vorbereitet hatten. Sie hatten gute Argumente für ihre Position. Sie hatten sich aber auch mit Gegenargumenten beschäftigt. Am Ende zeigte sich oft, dass eine Frage nicht klar mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden konnte, weil Themen einfach komplex sind und Zwischenschritte oder Kompromisse notwendig sind.

Die Schüler*innen haben gesehen, dass die Politiker*innen unterschiedliche Meinungen haben und alle Argumente für ihre Positionen vorzubringen wissen. Die Runden waren sehr spannend. Auch die Schüler*innen fanden das Format durchweg positiv. Solche Formate brauchen wir mehr. Und wir brauchen politische Bildung zum Anfassen in unseren Schulen.

Jugendliche entwickeln Interesse für Politik, wenn sie merken, dass sie etwas be-wegen können, wenn sie mit entscheiden können, was und wie sie lernen. Und derartige Programme machen deutlich, dass populistische Antworten oft zu kurz greifen und dass Aushandlungsprozesse manchmal nicht ganz einfach sind, aber der einzige Weg, um niemanden abzuhängen.

Demokratische Beteiligung ist auf vielen Wegen möglich. Vor einiger Zeit war ich an einer Grundschule, die ein Schüler*innenparlament hat. Dort wurde entschieden, welche Fußballtore für den Schulhof angeschafft werden sollten. Der Schulleiter konnte sich mit seiner Meinung nicht durchsetzen. Die Schüler*innen haben die großen Tore gewählt.

Offene Diskussionen, Mitbestimmung und die Erfahrung, mit entscheiden zu dürfen, sind wichtig für eine positive Einstellung zur Demokratie. Das müssen wir noch viel mehr an unseren Schulen vermitteln. Neben der Partizipation ist es natürlich auch wichtig, dass die Schüler*innen in WiPo unterrichtet werden, und dass es genügend Lehrkräfte gibt.

Es darf nicht sein, dass Schüler*innen nach Klasse neun oder zehn die Schule verlassen, ohne jemals Wipo-Unterricht gehabt zu haben. Dabei geht es darum, unser demokratisches System zu kennen. Aber noch wichtiger ist es, sich mit politischen Themen und den Spielregeln unserer Demokratie auseinanderzusetzen. Deshalb unterstützen wir, dass WiPo an Gemeinschaftsschulen in Zukunft den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern zugeordnet werden und verbindlich stattfinden soll.

Aber wir sollten uns nicht nur auf das Fach WiPo fokussieren. Die Anforderungen, die Sie, liebe SPD und lieber SSW, in Ihrer Begründung an die Schulen stellen, sind ja richtig. Ich stimme Ihnen zur, dass Schule die zentrale Aufgabe und Verantwortung hat, demokratische Werte zu vermitteln und Schüler*innen die Teilhabe an einer sozialen und demokratischen Gesellschaft zu ermöglichen. Aber das macht sie eben nicht nur in WiPo.

An den Gemeinschaftsschulen wird Weltkunde unterrichtet, an vielen Schulen bis einschließlich Klasse 10. An so einer Schule habe ich vor meinem Abgeordnetenmandat gearbeitet. Ich habe es auch unterrichtet. Und es war klar, dass politische Bildung hier eine große Rolle spielt. So steht es auch in den Fachanforderungen. Dort stehen Themen wie: „Menschenrechte, das friedliche Zusammenleben in einer Welt mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen, Gesellschaftsformen, Völkern und Nationen, Gleichstellung und Diversität, Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt, Partizipation: Recht aller Menschen zur verantwortungsvollen Mitgestaltung ihrer sozio-kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse.“

Deshalb sollten die Schulen die Freiheit bekommen, die WiPo-Stunden auch in Weltkunde zu integrieren, um mehr Zeit für vertieftes Arbeiten und für Projekte zu haben. Noch kurz zu WiPo in der Oberstufe: Auch jetzt schon kann WiPo in der Qualifikationsphase abgewählt werden, wenn man nicht das gesellschaftspolitische Profil gewählt hat. In Zukunft wird WiPo in der Ein-gangsphase weiterhin Pflicht sein. Außerdem entlasten wir WiPo, weil die Berufsorientierung in einem eigenen Fach in Klasse 11 stattfindet. WiPo wird also nicht geschwächt.

Mit der Neuregelung der Oberstufe soll eine größere Wahlmöglichkeit erreicht werden. Die Schüler*innen wollen eigene Schwerpunkte nach Interesse setzen. Das ist eine Forderung, die sowohl von den Lehrkräften als auch von den Schüler*innen immer wieder gestellt wird. Und wenn man mehr Auswahl hat, kann man auch Fächer abwählen. Das liegt in der Natur der Sache. Und wir werden zusätzliche Seminarstunden in der Oberstufe bekommen. Dort kann auch WiPo stattfinden, wenn die Schule es will. Oder auch ein gesellschaftspolitisches Projekt.

Politische Bildung ist für uns Grüne und auch für die Jamaika-Koalition sehr wichtig und wir sollten miteinander diskutieren, wie sie uns noch besser gelingt. Deshalb würden wir den Antrag von SPD und SSW gerne in den Bildungsausschuss überweisen, um dort mit Expert*innen weiter zu beraten, wie wir die politische Bildung an den Schulen weiter stärken können. ***

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